Donnerstag, 16. Mai 2013

ZUFÄLLE UND MÖGLICHKEITEN

Regenwetter und Grillen: Schwieriges Paar. Grillen zirpen meines Wissens bei Regen nicht. Feuer mag kein Wasser. Heute werfen wir zwar unseren Grill an, aber braten keine Wurst. Irgendwie ist uns nicht danach, und den Patienten oder dem Personal der UPK auch nicht. Einer kommt und fragt nach Würsten, aber unser Verweis auf das morgige Grillfest wird ohne Gegenrede akzeptiert. Es ist feucht auf dem Platz. Ich fürchte, auch morgen wird es feucht sein. Jetzt, nach knapp zehn Tagen Grillen-Aufenthalt in der UPK, kann ich leichte Ermüdungserscheinungen bei mir feststellen. Mein Enthusiasmus ist natürlich ungemindert, aber... Ich kann mich nicht mehr freudig jeder geistigen Verästelung öffnen. Es schleicht sich Routine ein. Die Meldungen der ständig stattfindenden Diebstähle durch T. interessieren mich weniger - wobei: Sie singt heute wieder in mein Mikrophon, und das berührt mich doch sehr merkwürdig. Ich hab das Gefühl, durch das, was sie singt, wirklich etwas über sie zu erfahren, über ihre Vorgeschichte, über ihren Schmerz. Vorher aber: Als ich ankomme, sitzt sie mit R. am Tisch. R. hat einen Künstlernamen: Johnny Katalysator. Und wie heisst er richtig? Reto Kuhn (Name von der Redaktion geändert). Johnny und T. haben Spass. Er war nur drei Tage hier. Für das Fest am 31. Mai in der Kaserne will er uns eine Band besorgen. Er kennt alle Bands von Basel, und auch sonst weiss er alles. 3 Tage war er hier, um sich etwas auszuruhen, wie er das nennt, aber jetzt kann er wieder voll loslegen.

Hier, der Text des neuen Liedes von T.

Es gibt Millionen von Sternen
Und eines das lieb ich so gerne
Nur eines, das hab ich in Hand
Den Jumbo Jet an Land

Wo ist mein Mann nur geblieben
Ich hab ihn verloren
Er ist himmelein
Er ist bei den Choren

Es gibt keine Engelein
Die sind alle tot
Hol jetzt das schöne Boot

Ich bin James Brown
Ich kann es beweisen
Dort sind Arschlöcher
Mit den Bundesleisen

Fang nie mehr was an Hippie an
Da hab ne Gitarre an der Hand
Das haben sie gestohlen, das klein klein
Ich schwimme jetzt im Rhein

Ariel Ariel hör mich von Norden her
Der Arge kommt vom toten Meer
Die Steine sind blockiert
Alles ist zerbrochen
Doch hier ist der Taucherrochen

Dein Ring ist in der Dole
Mach ihn nicht auf
Er ist ein Brillantenring von der Mickey Maus
Alle Dolen waren hier
Sie haben mich geklaut

Tina war ein schönes Kind
Hatte Haare wie der Wind
Flatter Vogel hell hinaus
Meine Tina Supermaus

Meine Tina lebt nicht mehr
Sie war drei Jahr, man hat sie im Waldstück im Wald gefunden
Ich bin Kelly Kleins Aktzenzahl verbunden
Lass mich jetzt in Ruh
Belinda hat die Augen zu
Natascha Kampusch ist die Zirkusmaus
Ich kann nicht mehr weitergehn
Sie haben wir geschossen auf dem Dach vom Meer
Das Dach ist eröffnet worden
Der Adler fliegt auf das Dach im Norden
Ich fahre in den Keller rein
Die Handschellen sind im Rhein

Doch man kann mich erpressen hier
Ich schenk ihm den Leu, mein Zirkustier
Es ist alles auf dieser Welt geschehen
Doch das Kärtchen wird die Bank wiedersehen
Ich hab Bilder gemalt an der Wand
Der Rembrandt ist Dein, ich hab ihn gesehn im Wunderland

Ich bin nicht Ariel, ich hab eine Geige, hat sie gestohlen

Doch das ist falscher Kaffee, der Gärtner hat die Dohlen
Alle Dohlen waren rauf
Ich bin reingeflogen
Doch es kommt der falsche Bagger,
hat die Kabine im Orden.

Dazwischen, beim singen, weint T. ein bisschen. Erzählt sie in diesen Zeilen etwas über sich? Was ist ihr passiert, wo ist der Moment in ihrem Leben, der ihr einen Teil ihres Verstandes geraubt hat?

Grillenhüpfen

Wir machen ein Trickfilmchen mit der Grille. H., ein Junge aus der Forensik kommt mit einer Lehrerin vorbei und hilft uns, die Grille herumzutragen. Es soll eine Fotoserie werden mit der Grille auf dem UPK-Gelände. Wenn man die Fotos hintereinander abspielen wird, wird es sein, als ob die Grille durch das Gelände hüpft und ihre Nase hierhin und dorthin steckt. Am Schluss klettert sie auf das Dach der Administration.

Innnen

Nachmittags sind wir eingeladen in der Abteilung für Verhaltenssucht. W. ein Praktikant, zeigt uns die Räume. Gruppentherapie, Einzeltherapie. Ein Schild mit der Aufschrift: „„LOGOUT“ is the hardest button to click.“. Oder „Die billigste Sucht: „Tabak: 2420 SFR (Eine Packung pro Tag) - World of Warcraft 240 SFR“.

Die Patienten sind hier meist ambulant. Sie kommen in Abständen von einer bis zwei Wochen hier vorbei. Manche sogar aus der Ostschweiz. Hier treffen sie in Gruppentherapien auf andere, die ähnliche Probleme haben. Suchterfahrenere helfen Suchtneulingen. Die Gespräche sind intensiv und sofort auf dem Punkt: Alles wird ausgesprochen. Spielsucht kann anfangen mit dem Wunsch / Zwang, sich für eine Niederlage revanchieren zu wollen: „Heute habe ich verloren - aber morgen hole ich das Geld wieder rein.“ Diese Gedankliche Muster kann bis zur totalen Überschuldung führen. Spielsucht ist zu 90% Automatensucht und 10% Roulette und ähnliches. Meist brechen Süchte nicht ohne Begleitumstände wie Trennungen, Unfälle, Arbeitslosigkeit aus. Online-Spielsüchtige verkriechen sich. Manche essen nichts mehr. Spielcasinos müssen Suchtgefährdete vom Betrieb ausschliessen. Aber in der Regel ist es schon zu spät, wenn so etwas geschieht.

Ich frage, mit welchen gesellschaftlichen Entwicklungen Verhaltenssüchte konnotiert werden. Das scheint sehr schwieriges Gelände zu sein. Man kann zwar mutmassen: Mehr Zersplitterung, mehr Druck, mehr Kommunikation, mehr Gleichzeitigkeit, mehr Geschwindigkeit. Letztendlich muss man auf den Patienten eingehen und seine individuelle Geschichte betrachten. Politische Forderungen aus der Therapieerfahrung abzuleiten, ist wohl eher schwierig. Und Dostojewski war auch schon spielsüchtig. Es kann also nicht am iPhone liegen.

Taktung

Das Gespräch mit W. dauert, und ist internsiv und sehr offen. Eine schöne Begegnung. Wir begreifen, dass das die Ausnahme sein muss. Das Personal hat sehr dichte Tage, und die meisten haben einfach weder Zeit für unsere Grille, noch für Gespräche. Wir reden darüber, ob es sinnvoll gewesen wäre, zielgerichter auf einzelne Abteilungen zuzugehen. Aber dann einigen wir uns, dass wir dann viel zu viel an diesem Klinikalltag rumgerüttelt hätten. Wir haben die Freiwilligkeit und den Zufall gesucht. Wir haben uns dafür entschieden, einfach da zu sein, an unserer Grille zu bauen, und die zu treffen, die extra zu uns kommen wollten, oder die uns entdeckten, und Musse hatten, stehenzubleiben. Was für einen Sinn hätte es gemacht, einen durchtetakteten Psychologen aus seinem Stundenplan reissen zu wollen? Die meisten sind einfach sehr beschäftigt, und haben in der Mittagspause Lust auf ein warmes Essen in der Personalmensa. Heute essen wir ausnahmsweise auch dort: Alles voll. Hier sind die Leute also. Wir schätzen, dass an der UPK 500 Menschen arbeiten. Kennengelernt haben wir vielleicht 40, und etwa mit 20 haben wir längere Gespräche geführt: Das sind in der Regel stationäre Patienten mit temporärem oder dauerndem Ausgang oder besonders engagiertes Personal, das sich etwas Zeit nehmen konnte. Die anderen sind uns, auch wenn wir auf dem sogenannten Centralplatz waren, einfach nicht begegnet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen