Dienstag, 14. Mai 2013

GESICHTER OHNE NAMEN

Wie Jana Grabner zeichnet, und Verhältnisse untersucht werden

Wir kriegen Besuch. Das fast vollständige Team der Abteilung für Verhaltenssüchte bringt Pic-Nic, Beeren, Würste, Brot, Früchte, Gemüse. Zwei Kinder sind dabei. Was ist Verhaltenssucht? Online-Sucht, Spielsucht, Sexsucht... Wie behandelt man das? Das wichtigste: Eine Beziehung zum Patienten aufbauen. Meistens ist eine lange und komplizierte Geschichte dahinter. Sehr lange geht es darum: Kennenlernen. Die eigentliche Behandlung, Massnahmen etc. fängt sehr viel später an. Das Gespräch ist der erste Schritt.

Ich gebe zu: All diese Blogs schreibt ein Unbedarfter. Ich habe zwar biographisch ein paar Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen in meinem Umfeld vorzuweisen, aber keine autobiographischen. Je länger ich hier bin (und lange ist es ja nicht), desto mehr - wie soll man es nennen - Achtung - Staunen - ? - empfinde ich vor der Arbeit, die hier geleistet wird. Die Krankheiten, die hier behandelt werden, scheinen mir LEBENS-Krankheiten. Psychiatrie ist wirklich keine Apotheke. Psychiatrie ist, vielleicht, ein Raum, in dem anders über Defekte nachgedacht wird, in dem verhandelt wird, was Normalität auch sein könnte, und in dem in gewisser Hinsicht die Abnormität des Normalen gesehen werden kann (oder das Normale am Abnormen). Was es hier gibt, gibt es überall. Mag sein, dass die Dosierung hier anders ist, Verhältnisse gekippt. Aber die Ingredienzien sind dieselben. Wann werden Störungen als so übergekocht empfunden, dass sie behandelt werden müssen? Warum eigentlich kann die paranoide T. nicht auch als gute Geschichtenerzählerin gelten? Ihre Fähigkeit, verschwörerische Phantasien herzustellen, ist jedenfalls phänomenal. J., der jeden Tag vor der Klinik sitzt und eine Woche brauchte, bis er sich endlich zum Würstchenessen einladen liess, kann auch als Beispiel für Vorsicht und Geduld gesehen werden. Sein Wesen scheint einer Pflanze zu gleichen (Allerdings einer fleischfressenden, wie er heute unter Beweis stellte). Ich weiss zwar nicht, wieviele Medikamente nötig waren, um seinen jetzigen Zustand hervorzubringen, und was er tat, bevor er sich in der UPK einfand. Er war bestimmt kein besonders brauchbarer Arbeiter. Oder doch? Wie kippt jemand über? Welche Faktoren schaukeln sich auf, bis jemand seinen Alltag nicht mehr bestehen kann, und warum? Was bedeutet es, Verantwortung über sein Handeln zu tragen, oder eben nicht? Schuldig sein, oder nicht. Zurechnungsfähig oder nicht. Fit oder nicht. Lustig oder nicht. Souverän oder nicht. Interessiert oder nicht. Kalt oder nicht.

Jana ist da. Sie zeichnet 3 Stunden lang alle, die sich zu ihr auf den Stuhl setzen und 5 Minuten still sitzen können. Ein Kind lässt sich zeichnen. P. möchte nicht gezeichnet werden. Als ich ihn frage, ob er porträtiert werden will, winkt er ab, und kommt den ganzen Tag nicht mehr in unsere Nähe. Manche hier sind wie Schmetterlinge. Ein Lufthauch weht sie weg. Ein junger Patient wartet ab, bis keiner auf dem Platz ist und bittet dann Jana um ein Porträt. Jana zeichnet den Securitas-Mann und Leute von der Verhaltens-Sucht-Abteilung. Sie zeichnet J., der mit einem Kumpel eine halbe Stunde zufrieden auf einem Stuhl hängt. Die Zeichnungen fixieren wir mit Wäscheklammern an Schnüren im Zelt. Nach einiger Zeit ist es ein kleines Museum. Gesichter ohne Namen, ohne Zuschreibung, ohne Urteil.

Einer erzählt mir, dass die Schweiz überdurchschnittlich viele Psychiatriepatienten hat. „Ausschuss von der Qualitätsproduktion. Ausschuss der Effizienzmaschine. Planstörungen. Andere Länder haben hohe Verbrechensraten, Korruption, Umweltverschmutzung. Wir haben Psychiatriepatienten.“

„Ich passe nicht in die Schweiz. Ich bin eher spanisch veranlagt, italienisch, südländisch. Ich bin laut. Man hat mich immer kleingehalten, weggejagt. Jetzt bin ich hier. Wenn ich wieder rauskomme, wandere ich aus. Die Sprachen kann ich schon.“

„Ich bin manisch-depressiv. Heute ist besser. Ich will wieder ins Leben. Ich will arbeiten. Eine Kunsttherapie-ausbildung machen. Das Sozialamt zahlt aber nichts, wenn meine Eltern die Ausbildung finanzieren. So suche ich Kellnerjobs. Nichts klappt. Ich bleibe hier“.

Die Forensik-Jungs rennen vorbei. V. trägt einen anderen auf seinen Schultern. Er ruft mir zu: „Heute kann ich nicht, kein Ausgang! Morgen wieder!“ Ein baumstarke Betreuer schreitet gemessenen Schrittes hinter ihnen her. Ist es ein Funkgerät, das er am Gürtel trägt?

T. kommt auf mich zu und umarmt mich: „Hoi Schätzli - das isch min Schatz!“

Die Sonne kommt, und der Platz füllt sich. Manche sitzen weit weg von uns, manche sprechen mit uns. Einer sitzt drei Stunden lang in sich versunken vor einem Busch. Tumasch baut den zweiten Flügel der Grille. Sie ist nun fertig. Die nächsten Tage werden wir mit Reparaturarbeiten und der Festvorbereitung verbringen. Am Freitag wird hier ein Fest stattfinden. Wer wird kommen? Alten Bekannte, Unbekannte? Es wird (und das ist jetzt als Werbung gemeint:) Gemüse, Fleisch, Kartoffeln für den Grill geben. Es wird eine Zeichnerin geben, die die Festteilnehmer protraitiert. Es wird etwas Musik und eine kleine Ansprache geben. Es wird etwas Werbung für das Wildwuchs-Festival geben, es wird zu trinken geben, viel Smalltalk, und vielleicht tanzt sogar unsere Grille. Freitag, 17. Mai, 14.-16 Uhr. Herzlich Willkommen!






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