Mittwoch, 8. Mai 2013

FÜR VERRÜCKTE IST ALLES NORMAL

Blogeintrag. 8.Mai.2013

Für Verrückte ist alles normal.

 Wie Tumasch Clalüna und Andreas Liebmann beginnen, eine Grille zu bauen, und das Wasser plätschern hören. 

Nach einer endlosen Irrfahrt mit Basler Bussen komme ich heute früh völlig ausser mir in der UPK an. Mein Hirn dreht wie ein verrückt gewordenes Bussystem. Mir fehlt es an Gelassenheit. Wir habe uns entschieden, dass wir ab jetzt, gemeinsam mit allen, die bei uns vorbeikommen und mithelfen wollen, eine grosse Grille bauen. Ihr Grundgerüst wird aus Bambus sein. Wir fangen an, und verknoten mit Hanfschnüren die ersten Bambusstangen.

V. taucht auf. Ein netter junger Mann. „Rate, wie alt ich bin - ich wirke reifer als ich bin“. Ich tippe auf 19. Stolz sagt er „16!“. Er wirkt ziemlich normal. Hat gute Umgangsformen. Die kann er der Aussenwelt aber nur zwei Stunden pro Tag zeigen. Sonst lebt er in der Geschlossenen. Mit vierzehn wurde er zu mindestens 6 Jahren Aufenthalt verurteilt. Zweifache schwere Körperverletzung. „Ich bin im Ghetto aufgewachsen, da muss man sich wehren können“. Dann erzählt er mir von seinen diversen Kampfsporttrainings, unter anderem eine TajChiform, die ursprünglich in der verbotenen Stadt gelehrt wurde, und immer tödlich ist. Stolz beschreibt er seine diversen Erfolge bei Verfolgungsjagden. „Von einer drei-Meter-Mauer gesprungen, abgerollt, der Polizist konnte nur noch Verstärkung anfordern. „Die Taj Chi - Form kann man übrigens auch etwas dosierter anwenden. Dann ist der Gegner nur zehn Minuten ausser Gefecht. So kann ich mich verpissen. Mit meinem Meister habe ich in dunklen Räumen geübt, in denen ich nichts sehen konnte. Sobald ich mich rührte, hat er mich umgelegt. Ein Achzigjähriger! Leider ist er jetzt tot. Ein Freund von mir glaubte nicht, dass ich mit verbundenen Augen einen Faustangriff abwehren kann. Dann hat er mich angegriffen und ich habe ihm, ohne etwas zu sehen, den Arm ausgerenkt. Für Frauen: Die Männer immer zwischen die Beine schlagen! Aber Frauen kann man dort auch angreifen. Das Schambein tut weh.“ Ich frage ihn, wo er trainiert hat. „In Unterwalden“. Von der Firma seines Vaters erzählt er mir, „in Niedersachsen.“ Ich glaube ihm alles. Ich stelle mir den kleinen Karate Kid mit seinem chinesischen Meister vor, der in Sarnen einen alten Bunker gemietet hat, und dort an Auserwählte seine Geheimnisse weitergibt. Die Auserwählten aus dem Ghetto, denen sonst nichts bleibt. Oder hat er das alles erfunden? Die ganzen Kampfsportgeschichten kann man sich zusammenlesen. Darf ein hochgefährlicher Jugendlicher zwei Stunden pro Tag ohne Begleitung auf den Centralplatz und unbewaffnete Besucher anquatschen?

X. kommt wieder vorbei. Er hat gehört, dass ich Bücher geschrieben habe. (Ich habe bisher keine Bücher geschrieben). „Ja, Theaterstücke“, sage ich. Das befugt mich offenbar, Richter über seine Gedichte zu sein. Er zeigt mir eines und möchte, dass ich es beurteile. Es gefällt mir. Ich schaue ein anderes Gedicht an und sehe teilweise gleiche Wörter wie bei dem ersten. Hatte er nicht gesagt, dass sich bei ihm Worte nie wiederholen? Wahrscheinlich habe ich ihn missverstanden. Er will unbedingt ein Buch von mir lesen. Er sagt, seine Therapeutin würde mich kennen. Ich hätte Kurzgeschichten und Gedichte geschrieben. Da bin ich ja gespannt. Vielleicht kommt sie aus der Zukunft. Ich verspreche, ihm ein Theaterstück zu schicken. „Schreibst Du auch so schwülstig wie die aus dem 16./17. /18. oder 19.Jahrhundert?“.

F. ist ganz aufgeregt. Seit Jahren arbeitet er hier. Er ist fasziniert von unserem Thema. „Stören! Seit ich denken kann, denke ich, ich störe. Mein Vater war im Krieg. Er wollte nicht sprechen. Immer mussten wir Kinder still sein. Dabei war das seine Störung! Und jetzt störe ich, immer störe ich. Ich habe 6 Geschwister. Ich bin der Älteste. Gerade habe ich einen Nebenjob verloren. Ich habe gestört. Ich habe eine Frau gepflegt. Und ihr Mann hat mich rausgeschmissen. Der fand, ich kam seiner Frau zu nah. Dabei wollte ich ihr nur helfen. Die interessierte mich gar nicht. Überhaupt nicht! Meine Frau hat gesagt, ich kann froh sein, bin ich weg. Jetzt habe ich mich zum Tangotanzen angemeldet und mache einen Sprachkurs. Ich störe die anderen immer, denke ich. Deswegen finde ich Ihr Motto so grossartig. Wer hat sich das ausgedacht?“. Ich versichere ihm, dass er uns nicht störe, und dass wir uns freuen, wenn er mit uns ein bisschen an der Grille bastelt.

Auf der anderen Seite des Platzes sitzen ein paar Erwachsene und ein paar Kinder. Wir werden nicht beachtet. Die Kinder besuchen offenbar ihren Vater - so denke ich. Er sitzt in schwarzen Trainingshosen da und spricht erregt mit geschäftlich angezogenen Männern - Besuchern? - Serbisch, Rumänisch oder Albanisch. Das Gespräch wirkt sehr ernst und konkret. Ich glaube, sie besprechen organisatorische Fragen rund um einen Todesfall. Wer räumt das Haus auf, wo kommen die alten Möbel hin? Was kostet der Imam? Beiläufig sage ich mir: Die Menschen hier haben eine Verbindung zur Aussenwelt. Sie haben normale Probleme. Ihre Situation ist weitgehend normal. Es gibt nur etwas, das unterscheidet sie von anderen, und deswegen sind sie hier. Hier wird Normalität ganz anders gesehen. Hier rechnet man mit allem. Auch Leute wie wir sind nichts aussergewohnliches. Würde einer mitten in der Stadt eine Grille aus Bambusrohren bauen, es würde auffallen. Hier ist das nicht so. Da sind diese beiden Typen, sie bauen eine Grille - na und? Künstler sind hier erst recht nichts besonders. So sitzen wir hier, auf einem Boden, der sich unvermittelt ins Nichts öffnen kann. Umgeben von ruhig sitzenden und schlendernden Menschen, von plätscherndem Wasser und friedlichen Häusern. 

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