Freitag, 10. Mai 2013

ZIRKUS

Wie Tumasch Clalüna und Andreas Liebmann vor lauter Wurstverteilung fast ihre Grille vergessen

Langsam werden wir Teil des Ganzen. Kann ich noch unterscheiden zwischen denen  und uns? Ich bin mittendrin, befreunde mich schon fast, und doch rücken die Patienten weiter weg. Ich lerne sie besser kennen und verwechsle sie nicht mehr mit den Pflegern / dem Aufpasserpersonal / dem Gärtner / der Sekretärin / dem Pförtner. Sie, die, wir. Wobei: Auf der sicheren Seite ist keiner. In der Patientenkantine Kranich kaufe ich für einen Franken eine Banane. Das Raumdesign: Funktionale Innenarchitektur der 70er, gelblich wie Zigarettenfinger. Der Kellner hat einen unsicheren Strand, weicht meinem Blick aus, ich gebe Trinkgeld. Sein „Danke“ versickert in seinen kraftlosen Lippen. Selbstgespräche plätschern, Hände zittern, Augen gucken tief in ein Spiegelei. „Was siehst Du im Eigelb?“. „DICH“. Aha. Dann gehe ich Kaffee kaufen in der Personalkantine. Der Bau ist riesig. Die Köche und Kellner verlieren sich in der durchgestylten Weite. Eine einzige Gruppe - Studenten? - sitzt an einem rechteckigen blauen Tisch. Ansonsten: Nur Einzelne, vielleicht sechs oder sieben Angestellte (Gesunde) im Nirvana des Hochglanzbaus - höchstwahrscheinlich preisgekrönte Architektur. Alles sehr still. Ich bezahle meinen Kaffee mit der Karte und eile stracks zu unserer Grille.

T. ist gut drauf und umarmt mich, als wir uns sehen. Dann singt sie mir ein Lied vor:

Alle meine Entchen
Schwimmen auf dem See.
Kommt ein falscher Bulle,
Schüttet Gift in Tee.

Alle meine Entchen
Gehen nach Davos.
Werden sie gefressen.
Vom Tiger im Kinderzoo.

Schwimme im Bodensee.
Habe keinen Schlüssel mehr.
Rettet mich ein schöner Mann.
Nimmt mich in den Arm.
Klaut mir das Geld.
Wo ist das Geld geblieben
In der Nummer sieben.

T. verbringt heute die ganzen vier Stunden bei uns, macht Spässe, und will fotographiert werden. Heute hat sich definitiv rumgesprochen, dass es bei uns etwas zu essen gibt. Pflichtbewusst haben wir auch frühzeitig den Grill angemacht, und Würste draufgelegt. Als die ersten kommen, sind die Würste schwarz. „Kannst Du das abkratzen?“ V. erscheint mit seinen Kumpels. Sie wollen alle etwas essen. V. will uns helfen. Er hat Status bei uns  und das zeigt er seinen Kollegen. Er benimmt sich seriös: Während die andern unsere Trinkbecher für Wasserschlachten entfremden, hält er Stangen beim Grillenbau, oder serviert Gästen Würste, Senf und Brot. Eine Weile lang ist es wie auf dem Rummelplatz. Kleine, Grosse, Dicke, Dünne, Bunte, Laute, Leise. Das Bedürfnis, zu essen, ist elementar und stärker als jede geistige Eintrübung. Bei der Wurst wird jeder normal und sagt was er will. „Händer kei Ketchup?“ „Pepita.“ „Nei, kei Cholesüri“. P. isst still und fröhlich zwei Bratwürste hintereinander. G. spaziert mit seiner ergatterten Wurst um den Brunnen. B. kommt alle halbe Stunden, um sicher zu sein, dass wir um halb zwei seine Wurst bereit haben. Als er kommt, wurde sie grade von jemand anderem geschnappt, und wir legen für ihn eine neue auf. Als sie gebraten ist, muss er leider wieder auf sein Zimmer. Extra telefoniert er mit seinem Betreuer, um sich zehn Minuten Wurstzeit herauszuschinden. Es klappt. D. (von dem ich noch nichts erzählt hatte, obwohl wir ihn schon drei Tage kennen - ein unauffälliger, netter Mann, der hier ist, weil er „zuviel geredet“ hat) verpasst leider die Würste. „Schade“, sagt er, und geht wieder.

Die Jungs um V. werden begleitet von einem Betreuer und einer Betreuerin. Er ist neu hier und muss den Betrieb kennenlernen. Die Betreuerin wirkt abgebrüht und doch sehr warm. In ihrem Mantel und der Sonnebrille wirkt sie wie James Bond. Wir nennen sie „Sherlock Holmes“, weil sie von Forensik erzählt, und davon, dass die Jungs, die sich hier lustig mit Wasser vollspritzen, ziemlich austicken können. „Die sind nicht umsonst hier“.

Heute bauen wir das Grillengerüst soweit, dass man das Insekt gut erkennen kann. Eine weile lang kämpfen wir mit den doch nicht allzu biegsamen Bambusrohren, aber am Ende  wird es ganz passabel. V. meint zwar, es sähe aus wie ein Schlitten von Santa Claus, aber wir lassen uns unseren Bastelerfolg nicht verderben. Wer hätte gedacht, dass unsere Grille auch so aussehen wird? Wir sind guter Dinge für den weiteren Bau. Die Grille scheint hier akzeptiert, und so hoffen wir, bleibt sie unbeschädigt übers Wochenende.

Wie wird wohl unser Grillfest? Langsam zeigen sich Ingredienzien: Würste, Wasser, Grille, Rennen, Pepita, singen, Gedichte.




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